Geistlicher Impuls für den Monat November 2021

Mit neuer Perspektive erfährt man besser den Himmel

Falten von Flugzeugen im Gefängnis während des Gottesdienstes

Wer kennt ihn nicht, den Papierflieger? Eine Form von Origami und ein Objekt, das einem Flugzeug ähnelt und – einfach gefaltet – aus Papier besteht. Für viele eine Erinnerung an so manchen Schulstreich. Heute noch werden sie immer wieder gerne gebastelt und auf die Reise geschickt. Das Falten eines schlichten weißen A4 Blattes zu einem Paperflugzeug erzeugt einen Überraschungseffekt und einen Perspektivwechsel. Etwas, das die Gefangenen der Justizvollzugsanstalt Fulda in einem Gottesdienst neu erfahren. Der Gefängnisseelsorger Diakon Dr. Meins Coetsier berichtet und schreibt seine Gedanken zum Herbstzeit, „eine Zeit für einen Perspektivwechsel“, sagt er. „Mit neuer Perspektive erfährt man besser den Himmel.“

Es ist Sonntagmorgen um 5.30 Uhr, der Wecker klingelt. Nach dem Frühstück packe ich meine Sachen zusammen und will ins Auto springen. Plötzlich habe ich eine Eingebung: „Papierflieger!“ Ja, sie können uns heute Morgen helfen, das Thema „Sucht und Perspektivwechsel“ im Gottesdienst zu klären. Es bleibt eine Herausforderung und eine spannende Aufgabe: Wie vermittelt man Gefangenen aus unterschiedlichen Kulturen, Religionen und sozialen Kontexten mit Sprachbarriere und einem Teil, der weder lesen noch schreiben kann, die Botschaft des Evangeliums? Auch, wenn das Falten von Flugzeugen normalerweise als etwas Kindisches angesehen wird, steckt hinter diesem Phänomen einiges an Technologie und Intelligenz. Es zeigt sehr gut, dass aus „Nichts“ – einem weißen Blatt Papier – „etwas“ entstehen kann. Darüber hinaus wurden im alten China sehr lange flugzeugähnliche Formen gefaltet, da Drachen dort bekannt waren.

Göttlichkeit wohnt in allen

Der Dienst beginnt. Ich frage die Kirchgänger, wie es ihnen geht: „Geht es Ihnen nicht gut?”, frage ich. Und: “Was können Sie tun, damit dies abgemildert werdern kann?” Im Gottesdienst spreche ich über das 12 Schritte Programm der Anonymen Alkoholiker. Die Schritte, die im Laufe der Jahre einigen Inhaftierten und Menschen außerhalb des Gefängnisses Hoffnung bringen können. In jedem von uns steckt etwas Zerbrechliches, selbst bei den harten Männern hinter Gittern. Jesus aus Nazareth versucht klar zu machen, dass wir anders mit uns und unserer Umwelt umgehen können. Seine Botschaft ist kein selbstzerstörerisches Urteil eines Richterstuhls, sondern ein Perspektivwechsel. Ein mitfühlender Erwachensprozess: Sich bewusster zu machen, dass Göttlichkeit in uns wohnt. Menschen, die das Gesetz gebrochen haben, wissen besser als jeder andere, wie destruktiv und süchtig-machend ein „Ego“ sein kann.

Zaubert ein Lächeln ins Gesicht

Im ökumenischen Gottesdienst an diesem Sonntagmorgen Anfang Oktober sprechen die Gefängnisseelsorger über Sucht und ihre Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Suchthilfe kann ein Start sein. Zunehmender Materialismus und anhaltender Individualismus führen dazu, dass sich die Menschen nicht mehr mit Gott und dem Wesentlichen des Lebens verbinden können. Ein Schritt-für-Schritt-Programm oder Gebet hilft, das Leben besser zu meistern. Mit einem Perspektivwechsel auf das Leben können Defizite und Süchte aufgedeckt werden. Sich selbst kritisch zu betrachten lernen, das ist die wahre Kunst.

Die Aktion mit gefalteten Flugzeugen zaubert einigen Häftlingen ein Lächeln ins Gesicht. Ich demonstriere es, falte ein Flugzeug, drehe mich um und werfe mein Kunstwerk in Richtung Altar. Zufällig treffe ich das Kreuz… Mit etwas Humor sage ich: „Das war so gemeint!“ – schließlich fliegt man mit einer neuen Perspektive schneller in den Himmel. Der evangelische Pfarrer schaut mich an und ist auch etwas überrascht von diesem spielerisch-symbolischen Moment. Die Gefangenen nehmen es positiv auf und einige beginnen selbst ein Flugzeug zu falten. Allen Kirchgängern wurde zu Beginn ein leeres Blatt Papier, ohne Erklärung, ausgehändigt, und die Botschaft ist angekommen. Man kann etwas aus seinem Leben machen, manchmal braucht man nur einen Perspektivwechsel. Natürlich kann man den Zettel – inklusive des eigenen beschriebenen Lebensblattes – zerknüllt in die Ecke werfen. Ist das ist eine Lösung? Unser Leben in die neue Perspektive von Gottes Licht zu falten, kann jedoch ein guter Anfang sein, um aus manchem Elend herauszukommen. Let it fly! (pm)+++