Mit neuer
Perspektive erfährt man besser den Himmel
Falten
von Flugzeugen im Gefängnis während des Gottesdienstes
Wer kennt
ihn nicht, den Papierflieger? Eine Form von Origami und ein Objekt, das einem
Flugzeug ähnelt und – einfach gefaltet – aus Papier besteht. Für viele eine
Erinnerung an so manchen Schulstreich. Heute noch werden sie immer wieder gerne
gebastelt und auf die Reise geschickt. Das Falten eines schlichten weißen A4
Blattes zu einem Paperflugzeug erzeugt einen Überraschungseffekt und einen
Perspektivwechsel. Etwas, das die Gefangenen der Justizvollzugsanstalt Fulda in
einem Gottesdienst neu erfahren. Der
Gefängnisseelsorger Diakon Dr. Meins Coetsier berichtet und schreibt seine
Gedanken zum Herbstzeit, „eine Zeit für einen Perspektivwechsel“, sagt er. „Mit
neuer Perspektive erfährt man besser den Himmel.“
Es ist Sonntagmorgen um 5.30 Uhr, der Wecker
klingelt. Nach dem Frühstück packe ich meine Sachen zusammen und will ins Auto
springen. Plötzlich habe ich eine Eingebung: „Papierflieger!“ Ja, sie können
uns heute Morgen helfen, das Thema „Sucht und Perspektivwechsel“ im
Gottesdienst zu klären. Es bleibt eine Herausforderung und eine spannende
Aufgabe: Wie vermittelt man Gefangenen aus unterschiedlichen Kulturen,
Religionen und sozialen Kontexten mit Sprachbarriere und einem Teil, der weder
lesen noch schreiben kann, die Botschaft des Evangeliums? Auch, wenn das Falten
von Flugzeugen normalerweise als etwas Kindisches angesehen wird, steckt hinter
diesem Phänomen einiges an Technologie und Intelligenz. Es zeigt sehr gut, dass
aus „Nichts“ – einem weißen Blatt Papier – „etwas“ entstehen kann. Darüber
hinaus wurden im alten China sehr lange flugzeugähnliche Formen gefaltet, da
Drachen dort bekannt waren.
Göttlichkeit wohnt in allen
Der Dienst beginnt. Ich frage die Kirchgänger, wie
es ihnen geht: „Geht es Ihnen nicht gut?”, frage ich. Und: “Was können Sie tun,
damit dies abgemildert werdern kann?” Im Gottesdienst spreche ich über
das 12 Schritte Programm der Anonymen Alkoholiker. Die Schritte, die im Laufe
der Jahre einigen Inhaftierten und Menschen außerhalb des Gefängnisses Hoffnung
bringen können. In jedem von uns steckt etwas Zerbrechliches, selbst bei den
harten Männern hinter Gittern. Jesus aus Nazareth versucht klar zu machen, dass
wir anders mit uns und unserer Umwelt umgehen können. Seine Botschaft ist kein
selbstzerstörerisches Urteil eines Richterstuhls, sondern ein
Perspektivwechsel. Ein mitfühlender Erwachensprozess: Sich bewusster zu machen,
dass Göttlichkeit in uns wohnt. Menschen, die das Gesetz gebrochen haben,
wissen besser als jeder andere, wie destruktiv und süchtig-machend ein „Ego“
sein kann.
Zaubert ein Lächeln ins Gesicht
Im ökumenischen Gottesdienst an diesem
Sonntagmorgen Anfang Oktober sprechen die Gefängnisseelsorger über Sucht und
ihre Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Suchthilfe kann ein Start sein.
Zunehmender Materialismus und anhaltender Individualismus führen dazu, dass
sich die Menschen nicht mehr mit Gott und dem Wesentlichen des Lebens verbinden
können. Ein Schritt-für-Schritt-Programm oder Gebet hilft, das Leben besser zu
meistern. Mit einem Perspektivwechsel auf das Leben können Defizite und Süchte
aufgedeckt werden. Sich selbst kritisch zu betrachten lernen, das ist die wahre
Kunst.
Die Aktion mit gefalteten Flugzeugen zaubert
einigen Häftlingen ein Lächeln ins Gesicht. Ich demonstriere es, falte ein
Flugzeug, drehe mich um und werfe mein Kunstwerk in Richtung Altar. Zufällig
treffe ich das Kreuz… Mit etwas Humor sage ich: „Das war so gemeint!“ –
schließlich fliegt man mit einer neuen Perspektive schneller in den Himmel. Der
evangelische Pfarrer schaut mich an und ist auch etwas überrascht von diesem
spielerisch-symbolischen Moment. Die Gefangenen nehmen es positiv auf und
einige beginnen selbst ein Flugzeug zu falten. Allen Kirchgängern wurde zu
Beginn ein leeres Blatt Papier, ohne Erklärung, ausgehändigt, und die Botschaft
ist angekommen. Man kann etwas aus seinem Leben machen, manchmal braucht man
nur einen Perspektivwechsel. Natürlich kann man den Zettel – inklusive des
eigenen beschriebenen Lebensblattes – zerknüllt in die Ecke werfen. Ist das ist
eine Lösung? Unser Leben in die neue Perspektive von Gottes Licht zu falten,
kann jedoch ein guter Anfang sein, um aus manchem Elend herauszukommen. Let it
fly! (pm)+++
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